Beschluss: Für eine nachhaltige Parteireform
a.o. Parteitag des SPD-Unterbezirks Göttingen am 16. September 2011
Antrag zum ordentlichen Bundesparteitag vom 04. bis 06. Dezember 2011
SPD-Unterbezirk Göttingen
Bezirk Hannover/Landesverband Niedersachsen
Die SPD erneuert sich
Für eine nachhaltige und erfolgreiche Parteireform
Wir begrüßen den erneuten Versuch, die Organisation der SPD und ihr Auftreten in der Gesellschaft den vielfältigen Veränderungen anzupassen. Eine fast 150-jährige Organisationstradition verpflichtet zu Kontinuität, sie darf aber kein Hindernis zur Aufnahme neuer Entwicklungen sein. Wir bedauern jedoch, dass die verspätete Vorlage der Vorschläge wenig Zeit zur Prüfung und Diskussion gibt.
Wenn die angestrebte Reform mehr sein soll als eine kleine Satzungsreform, dann verlangt sie Zeit. Dies ist auch die Erfahrung aus früheren Reformversuchen. Die große Parteireform 1958 startete mit einer Satzungsreform, und der nachfolgende Umbau der SPD in Arbeitsweise und öffentlichem Auftritt erstreckte sich über mehrere Jahre. Alle späteren Reformansätze blieben stecken oder scheiterten: das Vertrauensarbeit-Projekt des Orientierungsrahmen ’85, das Bahr/Koschnick-Projekt, die Reformversuche von Peter Glotz sowie später die Vorschläge von Franz Müntefering und Kurt Beck (Mitgliederwerbung). Ein gescheitertes Reformprojekt darf sich die SPD in ihrer jetzigen Situation nicht leisten.
Da den Grundorganisationen bis zum Antragsschluss am 30. September 2011 nur wenige Monate zur Beratung zur Verfügung standen, fordern wir die Vertagung weitreichender Beschlüsse.
Der Berliner Parteitag 2011 sollte eine Grundsatzdebatte führen, auf dessen Ergebnissen aufbauend der Parteivorstand mit der Erarbeitung eines umfassenden Konzeptes beauftragt wird. Ein solches Konzept muss die unten aufgeführten Punkte berücksichtigen, auf einem Sonderparteitag 2012 debattiert werden und zu durch breite Mehrheiten getragenen Beschlüssen führen.
Das vorgelegte „organisationspolitische Grundsatzprogramm“ ist als Grundlage für den Berliner Parteitag 2011 geeignet, um eine qualifizierte und breite Diskussion in der ganzen Partei über Veränderungen in der Organisationsstruktur anzustoßen. Diese breite Diskussion muss am Anfang einer groß angelegten Parteireform stehen und nicht am Ende.
Bei einer solchen Parteireform müssen folgende Punkte berücksichtigt werden:
1. Der zentrale Vorschlag der Beteiligung aller Mitglieder an Kandidatenaufstellungen per Urwahl mit Briefwahl ist prüfenswert, vor allem müssen die finanziellen und organisatorischen Konsequenzen genauer dargestellt werden.
Da zur Realisierung dieses Vorschlags Änderungen von Parteiengesetz und Wahlgesetzen notwendig sind, müssen auch alternative Beteiligungsformen geprüft werden, für deren Umsetzung keine Gesetzesänderungen erforderlich sind.
2. Die Teilnahme an der Personalauswahl und an der Abstimmung über die Programmatik muss das exklusive Recht der Parteimitglieder bleiben. Die Durchführung von Vorwahlen wird von uns abgelehnt. Eine geeignete Beteiligungsmöglichkeit von Nichtmitgliedern könnten die Themenforen sein.
3. Die Mitgliederwerbung der SPD verlangt nach neuen Impulsen und Kontinuität in der Umsetzung von Konzepten. Der vorgeschlagene Mitgliederbeauftragte kann dabei helfen, jedoch müssen die Schwächen unserer Mitgliederwerbung grundsätzlicher analysiert werden.
Wichtig ist auch eine Professionalisierung der Kommunikations-strukturen innerhalb der Partei. Angebote für neue Mitglieder müssen durch die Ortsvereine und auch darüber hinaus an die Neumitglieder herangetragen werden.
Die Einbindung der Neumitglieder darf nicht dem Zufall überlassen bleiben, sondern muss zum Markenzeichen der SPD als Mitgliederpartei gehören. Um das Engagement von (Neu)mitgliedern attraktiv zu gestalten, muss außerdem mit den Ergebnissen des Engagements auf allen Ebenen sicht- und nachvollziehbar umgegangen werden.
Einen bedeutenden Zustrom von neuen Mitgliedern erfuhr die SPD früher auch über ihr nahestehende Jugendorganisationen, z. B. von den Falken. Dieser Zusammenarbeit ist wieder stärkere Aufmerksamkeit zu widmen. Auch deren finanzielle Förderung durch die SPD muss überdacht werden.
4. Eine langfristig erfolgreiche und nachhaltig wirkende Parteireform bedarf eines ganzheitlichen Ansatzes. Nicht nur die Strukturen der Bundes- oder der Ortsvereins-Ebene müssen einer Prüfung unterzogen werden. Auch der regionale Aufbau und die Landesorganisationen der SPD müssen bei einer Parteireform systematisch betrachtet werden. Ziel muss es dabei sein, die Zusammenarbeit der einzelnen Ebenen noch besser aufeinander abzustimmen und zu verzahnen. Dies ist auch für ein einheitliches Auftreten der Partei wichtig und steigert ihre Wahrnehmbarkeit.
Das Einnehmen von Scharnierfunktionen, das von den Unterbezirken gefordert wird, muss in ein ganzheitliches Qualitätskonzept eingearbeitet werden. Die Qualitätsoffensive „5-Sterne-Ortsvereine / Unterbezirk“ war ein richtiger Ansatz. Leider wurde er weder konsequent umgesetzt noch langfristig weiterverfolgt.
Wenn der Ortsverein als „Keimzelle der Sozialdemokratie“ definiert wird, müssen die Bedürfnisse, die die Ortsvereine an die Parteiorganisation haben, zu entsprechenden Anpassungen der Parteiorganisation an diese Bedürfnisse führen. Das bedeutet, dass eine umfassende Parteireform „von unten“ gedacht und geplant werden muss.
Eine umfassende Parteireform, die „von unten“ gedacht und geplant wird, kann nur erfolgreich sein, wenn für die Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen ausreichend Zeit vorhanden ist und die unteren Ebenen von Anfang an einbezogen werden. Die Einbeziehung in Form von statistischen Befragungen reicht bei weitem nicht aus.
Bei einem ganzheitlichen Ansatz der Parteireform muss auch eine Antwort gefunden werden auf die Frage, wie die SPD trotz demografischen Wandels, der sich etwa in einer raschen Alterung der Mitgliedsstruktur zeigt, eine vor Ort ehrenamtlich schlagkräftig auftretende Partei bleiben kann.
5. Ein Innovationsfonds kann nützliche Wirkungen entfalten, jedoch sollte er auf Entwicklungsgebiete der SPD konzentriert und mit einem nachhaltigen Beratungsprogramm begleitet werden. Der Aufbau Ost seit 1990 zeigt, dass finanzielle Hilfe allein nicht ausreicht.
6. Von zentraler Bedeutung für die Organisationspolitik der SPD ist die qualifizierte Einbeziehung des Internet. Bisher wird es als Einbahnstraße von der Führung zu den Untergliederungen und den Mitgliedern eingesetzt. Ein Kommunikations-Ort zur Meinungsbildung über die Politik der SPD und zentrale Projekte ist es gegenwärtig nicht.
Wir erwarten, dass darüber eine Diskussion angestoßen wird, die 2012 in erste Ergebnisse mündet.
7. Die Zukunftsforen seit 2010 waren ein erster Ansatz, um die Politik der SPD zu überprüfen und ihr Tagesprogramm neu zu justieren. In ihrer Organisationsform, ihrer Anbindung an den Tagungsort Berlin reichen sie nicht aus, um die Mitgliederkompetenz der SPD zu mobilisieren und einzubeziehen. Eine aktualisierte MAV sollte in Zukunft eine breitere Mitgliederbeteiligung ermöglichen.
Die zukünftigen Themenforen, die neben den Arbeitsgemeinschaften eingerichtet werden sollen, sollten bis auf Bundesebene sichtbar werden. Die Beteiligten müssen glaubhaft vermittelt bekommen, dass ihre Arbeit von Relevanz für die Meinungsbildung in der Partei und den Fraktionen auf allen Ebenen ist.
8. Die SPD verfügte über eine historisch gewachsene traditionelle Beratungsstruktur von Kommissionen und Ausschüssen beim Parteivorstand, in die sachkundige Mitglieder aus Institutionen, Verbänden und der regionalen Partei berufen wurden. Dieses Beratungssystem garantierte ein beachtliches Maß von Beteiligung sachverständiger Mitglieder bei der Vorbereitung von politischen Projekten und Entscheidungen der Gesamtpartei, es sorgte auch für Transparenz und regionale Beteiligung. Nach 1998 wurden die Kommissionen und Ausschüsse aufgelöst, reduziert bzw. in den Berufungen intransparent fortgesetzt.
Dem Parteivorstand wird dringend empfohlen, ein aktives, auf Dauer angelegte Beratungswesen wiederzubeleben. Auch auf Landesebene sollten Kommissionen und Ausschüssen, wo dieses bisher nicht der Fall war, eingerichtet werden.
9. Die Vorschläge zur Erneuerung der zentralen Parteigremien stoßen auf unterschiedliche Reaktionen. Die Abschaffung des Parteirates wird abgelehnt. Vielmehr ist sein Einfluss zu verbreitern. Durch die Einführung eines Länderrates, in dem nur Personen qua Amt sitzen, wird auch die Quoten-Regelung unterlaufen.
Nicht durchdacht sind die Vorschläge zur Veränderung von Parteivorstand und Präsidium. Auf leisen Sohlen werden Regelungen wieder aufgegriffen, die der Stuttgarter Parteitag 1958 nach ausführlicher Diskussion abgeschafft hat. Der Reformvorschlag, den Parteivorstand zu verkleinern, birgt die Gefahr, dass dieser sich weiter von der Basis entkoppelt. Ebenfalls gibt es nach wie vor gute Gründe dafür, dass dem Präsidium auch frei gewählte Mitglieder des Parteivorstandes angehören. Reduziert werden könnte die Zahl der stellvertretenden Vorsitzenden. Bis 1988 kam die SPD mit zwei Stellvertretern aus, obwohl sie 900.000 Mitglieder hatte. Bei 500.000 Mitgliedern reichen maximal drei Stellvertreter aus.
Überprüft werden sollte die Funktion des/der Generalsekretär/s/in. Seit ihrer Einführung 1999 sind von vier Funktionsinhabern drei einen Existenznachweis schuldig geblieben. Ein gesondert gewählter Verantwortlicher für die Europäische Union ist entbehrlich. Die/der Verantwortliche hat wie die/der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion stets Zugangsrecht zum Präsidium.
10. Die Mitgliederpartei SPD leistet sich von allen im Bundestag vertretenen Parteien die wenigsten Delegierten auf dem Bundesparteitag. Entsprechend ist es für Mitglieder der SPD am schwierigsten, zum Bundesparteitag delegiert zu werden. Die Folge: Auf Bundesparteitagen sind vor allem Berufspolitiker delegiert. Migrantinnen und Migranten, SPD-Mitglieder ohne Mandat oder jüngere Parteimitglieder sind kaum vertreten. Die Erfahrungen der meisten SPD-Mitglieder finden entsprechend keinen Eingang in die Beratungen des Bundesparteitags. Wir schlagen die Verdopplung der Delegiertenzahl vor, um mehr Mitgliedern eine realistische Chance zu geben, als Delegierte am Bundesparteitag teilzunehmen. Um ausreichend Zeit für Debatten zu haben, sollten Parteitage grundsätzlich mehrtägig sein.
11. Die vorgeschlagene Beitragsreform wird abgelehnt. Das Prinzip der Solidarität, nach dem jeder und jede Einzelne nach ihrer und seiner Leistungsfähigkeit einen Beitrag leistet, soll auch in Zukunft gelten. Um das Prinzip der Beitragssolidarität besser durchzusetzen, ist die Aktualisierung der MAVIS erforderlich, damit Änderungen in der Berufs- und Einkommenssituation zeitnah erfasst werden.