Am Anfang verläuft sich die Veranstaltung eher in Feststellungen, die bei politisch Aktiven sicherlich seit Jahren zum Allgemeingut gehören. Ein Wissenschaftler trägt seine Thesen zur Wahlenthaltung vor, eine Moderatorin versucht, das Gespräch aufzulockern, und zwei erfahrene Politiker werfen ihre Erfahrungen in die Runde. Doch nach einer zähen ersten halben Stunde nimmt im voll besetzten Saal des Nachbarschaftszentrum Grone-Süd die Diskussion Fahrt auf.

„Warum eigentlich noch wählen gehen“, hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung provokant gefragt. Die Analyse von Dr. Matthias Micus vom Institut für Demokratieforschung Göttingen ließ zunächst einmal ein wenig begeistertes Publikum zurück. Micus: „Die Beteiligung derjenigen, die nach sozialem Status, Einkommen, Bildung und Beschäftigung einen niedrigen Status haben, geht kontinuierlich zurück. Dies gilt für die Wahlen und zivilgesellschaftliche Aktivitäten gleichermaßen.“ Als Gründe werden in einer Befragung des Instituts in drei Göttinger Quartieren genannt, dass sich „die Politiker“ von der Lebenswirklichkeit dieser Menschen entfernt hätten und „man“ ja doch nichts machen könne. Im Gegensatz dazu werde in den Quartieren mit höherem sozialen Status nicht nur „wie bisher gewählt“, sondern auch das Engagement in Vereinen, Organisationen und Parteien falle signifikant höher aus.

Doch dann ergriff Thomas Oppermann das Wort. Der langjährige Berufspolitiker, für seine trennscharfen Analysen bekannt, erweiterte zunächst den Horizont. „Es ist ein allgemeiner Trend. Nicht nur Parteien, sondern die gesamte Zivilgesellschaft aus Vereinen, Kirchen und Gewerkschaften verlieren deutlich an Bindungskraft.“ Oppermann ergänzt: „Auch die etablierten Medien verlieren sichtlich an Auflage und Autorität.“ Demokratie könne sich aber nur im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts entwickeln, wenn sich möglichst viele Menschen engagieren.

In die gleiche Kerbe schlug die langjährige Groner Ortsbürgermeisterin und Kreistagsabgeordnete Birgit Sterr. Sie warnt davor, die Frage der Wahlenthaltung allein auf den politischen Betrieb zu reduzieren. „Die Menschen wollen sich durchaus engagieren, aber nicht dauerhaft verpflichten. Das beobachtet sie in der Flüchtlingsarbeit genauso wie in Vereinen und Parteien. Selbstbewusst fügte sie hinzu, dass sie auch eine Holschuld der Bürgerinnen und Bürger sehe. Sterr: „Die Menschen müssen aus den eigenen vier Wänden rauskommen!“

Diesen Ball nimmt wiederum Thomas Oppermann auf. „Wenn die Menschen, die sich bei der Wahl enthalten, voll einbringen würden, dann könnten sie stauen, welche Power sie damit entwickeln“, propagierte der SPD-Fraktionsvorsitzende. Nun brachte auch Wissenschaftler Micus seine Thesen mit Empfehlungen auf den Punkt. Gesellschaft müsse „vordergründig unpolitische Beteiligungsmöglichkeiten bieten“. Im zweiten oder dritten Schritt komme „vielleicht etwas Politisches heraus.“ Für Birgit Sterr ist das in der Praxis eher eine Selbstverständlichkeit, denn nicht nur sie ist als ehrenamtliche Kommunalpolitikerin nach Kräften viel in den Vereinen unterwegs und auch beim Einkaufen ansprechbar. Bürgerinnen und Bürger müssen also gleichermaßen wie Politik und Gesellschaft aufeinander zugehen, Gräben zuschütten und Mauern einreißen. Nicht klären konnte die Veranstaltung die Fragen, ob veränderte Diskussions- und Veranstaltungsformate das Problem abbauen könnte, die Ausrichtung der Parteiarbeit auf offene Bürgerbeteiligung hilfreich ist und welche Rolle aktuell populistische Strömungen bei der Aktivierung von Wählern spielen. (gaf)