Der Rücktritt von Andrea Nahles von der Fraktions- und Parteispitze lässt die SPD noch weiter ins Chaos trudeln. Wie soll es jetzt weitergehen? Das Göttinger Tageblatt (Ausgabe 4. Juni 2019) hat führende Sozialdemokraten in der Region Göttingen gefragt. Hier geben wir ihre Antworten wieder. (Das Porträt von Willy Brandt steht für das, was wir sicher nicht wiederbekommen: die gute alte Zeit. Red.)

Thomas Oppermann (MdB, UB-Vorsitzender)

„Andrea Nahles hat durch ihren Rücktritt der Partei und der Fraktion, aber auch sich selbst, eine Zerreißprobe erspart“, kommentiert der Göttinger SPD-Unterbezirksvorsitzende (und Vizepräsident des Bundestages) die aktuelle Entwicklung. Nahles sei in den vergangenen Tagen einiges zugemutet worden. „Es gab sicher auch berechtigte Kritik, aber manches war unter der Gürtellinie.“ Das mache die SPD insgesamt nicht sympathischer und attraktiver für die Wähler.

Ähnlich wie bei den Grünen plädiert Oppermann bei der kommenden Führung für eine Trennung von Partei- und Fraktionsvorsitz. Die SPD sei in einer kritischen Phase und müsse jetzt sorgfältig diskutieren, wie sie sich aufstellt. Es gehe dabei um Inhalte, nicht um eine Personalie. Das Hauptthema der SPD sei der soziale Zusammenhalt. „Auch das Thema Klima ist ein Schlüsselthema für uns Sozialdemokraten, aber es muss auch sozial verträglich gestaltet werden und es darf nicht dazu führen, dass eine fünfköpfige Familie sich den Urlaub nicht mehr leisten kann.“

Es müsse jetzt auch geklärt werden, ob sozialdemokratische Forderungen weiter in der GroKo realisiert werden können. „Wenn wir das nicht können, verliert diese Koalition ihre Daseinsberechtigung“, sagt Oppermann und fügt an: „Auf jeden Fall werden wir unsere Mitglieder in die Entscheidung über die künftige Führung intensiv einbinden.“

Christoph Lehmann, Vorsitzender Göttinger Stadtverband

Geradezu verbittert wirkt der Vorsitzende des Göttinger SPD-Stadtverbandes, Christoph Lehmann: „Es ist doch völlig falsch, zu glauben, dass es der SPD hilft, wenn wir jetzt die Spitze wieder austauschen. Die Probleme beginnen doch an der Basis“, sagt Lehmann. Wenn es eine Erneuerung der SPD geben solle, müsse sie von den Ortsvereinen ausgehen. Nur wenn alle Mitglieder das wirklich wollen und sozialdemokratische Ideen dort ‚leben‘, wo sie in der Gesellschaft verankert sind, können wir das schaffen.“ Vor diesem Hintergrund stelle sich für ihn die Personalfrage nicht: „Es ist egal, was die da oben jetzt machen, das ändert nichts an der Situation und ist deshalb relativ gleichgültig.“

Larissa Freudenberger, Vorsitzende Juso-Unterbezirk

Trotz aller Kritik der Jusos an Nahles und den Gang in die Große Koalition mit der Union sagt die Vorsitzende des Juso-Unterbezirks Göttingen, Larissa Freudenberg: „Der Umgang mit Andrea Nahles ist beschämend. Mit einem Mann wäre in dieser Situation nicht so umgegangen worden.“ Freudenberger ist sich sicher, dass eine reine Debatte um Personalien die Probleme der SPD nicht lösen wird. Grundsätzliche Fragen, etwa „Wie geht man mit Kritik um?“, müssten innerhalb der Partei geklärt werden. Dabei stehe die inhaltliche Ausrichtung der SPD weit über der Frage nach dem Personal an Fraktions- und Parteispitze. Sie erneuerte die Forderung der Jusos nach einem vorgezogenen Parteitag ebenso wie die nach einem neuen Grundsatzprogramm. „Wir müssen uns fragen, welche Klientel wollen wir erreichen. Es reicht nicht mehr zu sagen: Die SPD ist die Arbeiterpartei“, sagt Freudenberger. Fest steht für sie: „Mit den eigenen Leuten kann man nicht so umgehen“, das schade der SPD.

Die am Montag vorgeschlagene Übergangslösung hält Freudenberger für gut. Zu weiteren Personalfragen will sie sich aber nicht äußern. „Jeder hat Respekt verdient, der diese Aufgabe übernimmt.“ Bei einem Bundesparteitag müssten Fragen wie „Wie konnte es soweit kommen?“ und „Wie geht es inhaltlich weiter?“, geklärt werden. Antworten zu drängenden Themen wie etwa Klimaschutz, Sozialpolitik und Digitalisierung müssten nun gefunden werden.

Julian Bartels, Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Bovenden

Der Billingshäuser Ortsvereinsvorsitzende Julian Bartels ist unentschlossen, ob ein Parteitag oder die Basis über den geeigneten Kandidaten entscheiden sollen. Ihm hat das niedersächsische Modell „damals zur Landtagswahl“ gut gefallen, als sich Ministerpräsident Stephan Weil bei Regionalkonferenzen den Mitgliedern gestellt habe. „Eines ist jedenfalls klar, die Basis hat keine Lust auf eine Personaldiskussion. Die SPD hat ein dickes Hausaufgabenheft, das abgearbeitet werden muss. Das hat Vorrang.“ Einen geeigneten Kandidaten kann und will der Bovender Ortsvorsitzende nicht aus dem Hut zaubern. Mit der kommissarischen Übergangslösung Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel kann Bartels gut leben: „Das ist eine charmante Lösung. Die punkten nicht mit ihrem Ego. Was jetzt nicht sein darf, ist ein Schnellschuss.“

Hans-Jürgen Beister, Vorsitzender SPD-Ortsverein Dransfeld

Der Dransfelder Ortsvereinsvorsitzende Hans-Jürgen Beister spricht sich klar für eine Urwahl aus. Die Frage, wer Nachfolger von Nahles werden sollte, habe er für sich aber noch nicht beantwortet. „Ich überlege jetzt schon seit zwei Tagen, aber ich bin noch nicht zu einem Ergebnis gekommen“, sagt Beister. So sei Stephan Weil auch „in Hannover gut aufgehoben“.

Ulrike Benstem, Ortsvereinsvorsitzende Gleichen

Über die Nahles-Nachfolge „sollte ein Parteitag entscheiden“, sagt die Ortsvereinsvorsitzende in Gleichen, Ulrike Benstem. Dabei ist das für sie gar nicht die Kernfrage: „Ich bin es vor allem leid, dass wir nach jeder Wahl überhaupt eine Personaldebatte führen und es nicht schaffen, über Inhalte zu diskutieren. Das stinkt mir langsam und ist schädlich.“ Jetzt müsse vor allem über Sachinhalte diskutiert werden, „dann sehen wir, wer für welche Position steht“. Falsch sei es aus ihrer Sicht, jetzt die Ministerpräsidenten Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz) und Stephan Weil (Niedersachsen) auf den Plan zu rufen. „Die machen in ihrem Land gute Arbeit, dass dürfen wir nicht auch noch gefährden.“

Harald Grahocvac, Ortsvereinsvorsitzender Rosdorf

„Wir sollten jetzt nichts überstürzen und in Ruhe diskutieren, wer für die Nachfolge in Frage kommt“, mahnt der Rosdorfer Ortsvereinsvorsitzende Harald Grahovac aus seiner persönlichen Sicht. Sein Favorit Stephan Weil habe leider schon abgewunken, „grundsätzlich aber wünsche ich mir einen Mitgliederentscheid“. Aber auch Grahovac erkennt, dass es nicht um eine reine Personalie geht: „Alle ahnen, dass es auch um die Zukunft der Koalition geht, ob sie weitergeführt werden soll oder sie der Grund für das Dilemma ist.“ Gebe es Neuwahlen, hätte die SPD gerade jetzt „allerdings eine sehr schlechte Position“.

Alexander Saade, Vorsitzender SPD-Ortsverein Osterode

„Insbesondere beim Parteivorsitz wünsche ich mir, dass die Partei nichts überstürzt“, sagt Alexander Saade, Parteivorsitzender in Osterode. Eine Interimslösung fände er auf jeden Fall gut. „Und man sollte Teams bilden: Ich wünsche mir Doppelspitzen in Fraktion und Partei; und keine Personalunion von Fraktions- und Parteivorsitz.“ Der geplante Parteitag im Dezember sei ein realistischer Termin für konkrete Vorschläge und eine Aussprache. Bei der Wahl zum Parteivorsitz „begrüße ich eine Mitgliederentscheidung, also eine Urwahl“. Grundsätzlich gehe es für ihn aber um mehr als eine Personalentscheidung: „Wir hatten ja die Diskussion um Groko oder nicht, es gab zwei starke Lager, das war keine eindeutige Angelegenheit. Es geht um unsere Inhalte. Wie sollte sich die Partei neu ausrichten und gleichzeitig in der Großen Koalition Kompromisse schließen?“

Gudrun Surup, Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Hann. Münden

„Einer Urwahl stehe ich kritisch gegenüber. Ich glaube nicht, dass unsere grundsätzlichen Schwierigkeiten so zu lösen sind“, sagt Gudrun Surup, Ortsvereinsvorsitzende in Hann. Münden. Die personelle Diskussion komme zur Unzeit, „wir brauchen eine Neuorientierung und eine neue Maxime“. Durchsetzungsvermögen und Kompetenz besitze Malu Dreyer, „das wäre eine Person, die ich sehr schätze“.

Anni Dembke, Vorsitzende SPD-Ortsverein Friedland

„In Ruhe und Besonnenheit“ sollte es jetzt weitergehen, sagt die Friedländer Ortsvereinsvorsitzende Anni Dembke und fügt an: „Wir sind eventuell für eine Interimsvorsitzende, einen Interimsvorsitzenden bis nach den Landtagswahlen im Herbst, bis wir sehen, wo wir stehen. Und dabei gehe es um mehr als um eine Personaldebatte. „Es steht die programmatische Ausrichtung der Partei auf dem Prüfstand. Es geht vor allem um die Belange der Menschen.“ Es gehe um Rente, Wohnraum, Mobilität, Bildung, medizinische Versorgung, Gehälter und Arbeitszeit in allen Berufen, um nur einige der Punkte zu nennen. Bei der Nachfolge unterstützt Dembke klar eine Mitgliederbefragung nach vier Vorstellungsrunden in Nord-, West-, Ost- und Süddeutschland. Bei mehr als vier Kandidaten entscheiden die Landesverbände, eventuell auch die Ortsvereine, über die Zulassung der Kandidaturen. Einen Favoriten nennt sie nicht: „Schauen wir, was die Zeit bringt. Über’s Knie brechen, bringt jedenfalls nichts“.

Kurt Prutschke, Vorsitzender SPD-Ortsverein Adelebsen

„Ich persönlich wünsche mir, dass der Parteivorstand und der erweiterte Vorstand jetzt in Ruhe vernünftig beraten und danach mit einer gemeinsamen Meinung an die Öffentlichkeit treten“, sagt der SPD-Vorsitzende in Adelebsen, Kurt Prutschke. Bei der avisierten Übergangslösung hofft er, dass dann vernünftige Überlegungen angestellt werden und intern Personen angesprochen werden, die als Fraktions- und/oder Parteivorsitzende infrage kommen. „Und dann müssen die Parteimitglieder mitentscheiden – in einer Urwahl“, so Prutschke. Grundsätzlich aber gehe es vorrangig „um die Themen, die unseren Wählern wichtig sind, nicht um personelle Auseinandersetzungen – das ist der Sache nicht dienlich“.

Klaus Posselt, Beisitzer SPD-Ortsverein Herzberg

„Es sollte auf jeden Fall wieder eine Frau Vorsitzende werden“, sagt Klaus Posselt, Beisitzer beim SPD-Ortsverein Herzberg. Nahles sei die erste Frau an der Spitze der SPD gewesen – und gescheitert. Es sei daher sinnvoll, eine Frau als Nachfolgerin zu bestimmen, damit es nicht heiße, dass Frauen eine solche Position nicht ausfüllen könnten. „Schließlich sind 50 Prozent der SPD-Mitglieder Frauen.“ Von einer Urwahl würde er persönlich aber absehen. „Delegierte können sich besser informieren und können eine so wichtige Entscheidung einfach kompetenter treffen“, sagt Posselt.

Matthias Schenke, Vorsitzender SPD-Ortsverein Duderstadt

„Zum Ersten ist das regelmäßige Austauschen der Führungsspitze meiner Partei nur das Symptom einer inhaltlichen Krise der SPD, ergo handelt es sich nur vordergründig um eine Personaldebatte“, kommentiert der Ortsvereinsvorsitzende in Duderstadt, Matthias Schenke, die aktuelle Entwicklung. Und: „Ich stelle ganz grundlegend eine maximale Entfernung einer sich autokratisch gebärdenden Parteispitze sowohl von eigenen Mitgliedern fest, als auch von inhaltlichen Positionen, für die die SPD stehen sollte.“ Daraus ergebe sich logisch die Forderung nach einer Entscheidung der Mitglieder über den Parteivorsitz. Er setze auf einen Kandidaten, der weiß, für wen er sich einzusetzen hat. Das könnte am ehesten der Westfale Achim Post sein. Zudem sollte es ganz eindeutig eine Trennung des Parteivorstandes von der Fraktionsführung geben. Im Übrigen sei er der Meinung, dass die Parteizentrale in Berlin „personell entkernt“ werden müsse.

Michael Schmülling, Vorsitzender SPD-Ortsverbands Radolfshausen

Für den Radolfshäuser Ortsvereinsvorsitzenden Michael Schmülling ist das derzeitige Dilemma der SPD tatsächlich an den Personen festzumachen. „Ja, es handelt sich um eine Personaldebatte. Aber an Personen hängen immer auch Positionen und Inhalte.“ Bei der Suche nach geeigneten Kandidaten für den Parteivorsitz und die Fraktionsspitze mahnt er zur Geduld. Es sollte mindestens bis nach den anstehenden Landtagswahlen mit Interimspersonal gearbeitet werden. Schmülling hofft für die Zukunft auf eine „charismatische Führungspersönlichkeit“ an der Spitze seiner Partei. „Aber auf Anhieb kann ich da noch keinen erkennen.“

Von Michael Brakemeier, Ulrich Schubert, Markus Scharf, Nora Garben, Eduard Warda, Kathrin Lienig, Andreas Fuhrmann und Stefan Kirchhof