Unser Gesundheitssystem ist gut, hat aber für die sich abzeichnenden Probleme des demografischen Wandels und der steigenden Kosten keine passenden strukturellen Antworten. So ist die gestrige Diskussion um die medizinische Versorgung auf dem Land in Herzberg zusammenzufassen. Zu der Diskussion mit Professor Dr. Heyo Klaus Kroemer, Dekan des Uni-Klinikums Göttingen, Landrat Bernhard Reuter und dem Kreistagsabgeordneten Dr. Andreas Philippi in der Reihe „SPD vor Ort“ waren 50 Gäste gekommen.

In seinem Eingangsreferat machte Kroemer die Entwicklung deutlich: die Menschen werden älter, gleichzeitig macht die Medizin riesige Fortschritte. Im Verhältnis zahlen immer weniger Menschen in das solidarische Gesundheitssystem ein, die Kosten steigen gleichzeitig, weil die Medizin immer spezieller wird. Die junge Menschen ziehen in die Städte, die älteren Menschen bleiben in den Dörfern zurück. Das jetzige System könne nicht sachgerecht auf diesen Wandel reagieren. Ein Argument schloss der Sprecher des Vorstandes der Uni-Klinik als Lösung kategorisch aus: „Der Migrationseffekt wird das nicht ausgleichen können.“

Diskussion
Professor Heyo Kroemer (r.) bei seinem Eingangsreferat

Um die Kostensteigerung zu bremsen, habe man vor etwa 12 Jahren Fallpauschalen für die Behandlung eingeführt. Das habe zu dem Effekt geführt, dass kleinere Krankenhäuser nicht mehr wirtschaftlich arbeiten können, weil sie den gesamten Bereich der medizinischen Versorgung abbilden müssen. Auch das gehe zu Lasten der medizinischen Versorgung auf dem Lande.

Seine Lösung: Neben den großen medizinischen Zentren mit vollumfänglicher Versorgung müsse es regionale Kliniken geben, die für die Grund- und Regionalversorgung vorgesehen sind. Dazu zählte er die Innere Medizin, die Chirurgie, die Geriatrie (Altersmedizin) und die Schmerztherapie. Diese regionalen Zentren müssten mit den Oberzenten sehr gut vernetzt sein. Auf der anderen Seite sollten sie ebenfalls mit den Arztpraxen vor Ort vernetzt sein. Er sprach von einem „abgestuften, abgestimmten System“. Damit sei eine regionale gute Versorgung für alle oft auftretenden Versorgungsfälle gewährleistet, in den Oberzentren sollte man sich spezialisieren.

Vorausgesetzt für dieses System sei aber auch eine bessere Digitalisierung und ein Austausch der Krankendaten. Schon jetzt sei es möglich, einzelne Daten wie EKG oder Blutzuckerwerte automatisch laufend erfassen und per Handy in ein medizinisches Zentrum übertragen zu lassen. Hier müsse die Entwicklung deutlich vorangetrieben werden, damit bei einer Behandlung sofort wichtige Daten zur Verfügung stünden.

Landrat Bernhard Reuter
Landrat Bernhard Reuter

Landrat Bernhard Reuter hakte hier ein. Der Staat müsse mehr als bisher die Gesundheitsvorsorge aktiv steuern und dürfe sich nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Ein Landkreis könne da nur schwer eingreifen. Er kritisierte die „aufgesplitterten Zuständigkeiten“. Wenn man einer Klinik helfen wolle, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei, zähle das als eine „freiwillige Aufgabe der Kommune“. Zudem gebe es einen Investitionsstau, weil die kommunalen Kliniken „dramatisch unterfinanziert“ seien. Auch er kritisierte, dass die Fallpauschalen die kleinen Krankenhäuser benachteiligen. Und die großen Klinikketten hätten wenig Interesse, sich mit der ambulanten Versorgung zu vernetzen. Dabei seien auch Haus- und Fachärzte auf den Kontakt zu Kollegen angewiesen. Nicht vergessen solle man in diesem Zusammenhang, dass auch die Klinikseelsorge mit in die Vernetzung gehöre.

Als Kommunalpolitiker könne man aber für eine bessere Mobilität auf dem Lande sorgen, damit die Menschen die medizinischen Versorgungszentren auch erreichen könnten, so wie es jetzt der künftige Landkreis plane. Zudem sei mit der Gesundheitsregion Göttingen ein erster Schritt getan, die Region besser medizinisch zu vernetzen.

Reuter_Kroemer
Während der Diskussion: Bernhard Reuter, Dr. Andreas Philippi (stehend) und Prof. Heyo K. Kroemer
Dr. Andreas Philippi
Dr. Andreas Philippi

Mit einem Vorurteil versuchte Dr. Andreas Philippi aufzuräumen: „Ärzte verdienen gut – aber das ist nicht alles.“ Es nütze nichts, soviel zu arbeiten, dass das Privatleben zu kurz komme. Ärzte seien sehr wohl bereit, auch in der Region zu arbeiten, wenn die Lebensqualität stimme. Vor allem der nächtliche hausärztliche Notdienst sei im ländlichen Raum eine zunehmende Belastung, denn die Menschen würden älter und damit eher krank. Gebe es weniger Ärzte, sei der einzelne Mediziner mehr gefordert. Gerade die langen Fahrstrecken kosteten viel Zeit und Kraft. Das gesamte Umfeld müsse stimmen, damit man sich als Arzt wohlfühlen könne.

Zur Kostensenkung hatte Philippi, der Chirurg ist, einen zusätzlichen Vorschlag. In den USA sei die Zahl der ambulanten Operationen deutlich höher als in Deutschland. Hier liege der Anteil bei nur 20 Prozent. Eine ambulante Operation werde nur mit rund 70 Euro honoriert, ein Krankenhausaufenthalt pro Nacht aber mit durchschnittlich 1000 Euro. Deshalb hätten die großen Klinikkonzerne überhaupt kein Interesse an ambulanten Operationen. Schon mit einer Änderung der Honorierung könne man hier sicher viel bewegen.

Am Ende einer sehr angeregten Diskussion auch mit den Gästen stellte Landrat Bernhard Reuter mit Blick auf die Gesundheitsregion Göttingen fest: „Wir sind auf einem guten Wege. Wir haben es begriffen. Nun müssen wir es nur noch mit allen Akteuren umsetzen.“ Und Professor Kroemer wünschte sich eine „intensive gesellschaftliche Diskussion“, damit alle Patienten, ob in der Stadt oder auf dem Lande, gleichermaßen von unserem Gesundheitssystem profitieren können.